Sven Zprottenkopp

Der Katastrophenkanal

Geschrieben und vorgetragen im Sommer 1989

Was spricht eigentlich dagegen, wenn wir hundert Fernseh-Programme zur Verfügung haben? Da kann doch jeder frei auswählen, was er sehen will. Und sie müssen auch nicht denken, dass da dann nur noch billige Unterhaltung gemacht wird. Nee! Ich habe jetzt in der Zeitung gelesen, das demnächst ein Katastrophenkanal eingerichtet wird, der rund um die Uhr nur über Katastrophen berichtet.

Ja, die schießen so zwanzig, dreißig Satelliten ins All, die ständig zu jedem beliebigen Platz geschickt werden können, rund um den Planeten. Daneben haben sie an allen Brennpunkten Kamerateams, Beobachtungsflugzeuge und ähnliches. Was glauben sie, was das für Auswirkungen auf die Aktualität haben wird, auf das legitime Informationsbedürfnis der Bevölkerung? Passen sie auf, ich mache Ihnen mal vor, wie das aussehen könnte.

(Ich stehe auf, nehme ein Mikrophon in die Hand und beginne verschiedene Reporter zu spielen.)

»Guten Abend meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kinder, nicht zu spät ins Bett. Aber ein paar Stunden dürft ihr noch. Die Berichte über die Kriegsschauplätze dürft ihr euch noch ansehen, aber der ›Schulmädchenreport‹ ist nicht für euch gedacht. Auch wenn ihr es vom Titel her vermutet.

Für die aller Kleinsten kommt jetzt gleich das Sandmännchen mit dem chinesischen Zeichentrickfilm ›Deng und Peng‹. Dann der aktuelle Filmbericht aus China mit dem Titel ›Deng macht Peng‹. Peng, Peng, Peng.«

(Ich emittiert eine Pistole, dann eine Mp.)

»Na ja, zur Verteidigung des Sozialismus müssen halt hin und wieder ein paar umgelegt werden.

Wie bitte?

Ach so, ja, ein paar Tausend. Gut das sie mich verbessert haben.

Des weiteren: In der deutschen Bucht ist für heute abend eine Sturmflut angekündigt. Sollten die Deiche brechen, werden wir natürlich sofort rüberschalten. Ersatzweise haben wir Live-Reportagen aus dem Bürgerkriegsgebieten auf Ceylon, in Mittelamerika und dem Nahen Osten. Wir erwarten dann Satellitenfilme aus Äthiopien. Riesige Flüchtlingsströme völlig abgemagerter Menschen bewegen sich dort zur Zeit auf Lager der Vereinten Nationen zu. Es sind wirklich erschütternde Bilder. Stellen sie sich also Bier und was zu knabbern bereit, damit sie nicht zwischendurch zum Kühlschrank laufen müssen.

Aber jetzt ich höre gerade, wir können eine Live-Reportage einspielen. Es hat auf der Autobahn Frankfurt-Darmstadt eine Massenkarambolage gegeben. Wir schalten also mit Karambo rüber zu Jens Jensen. Hallo Jens?«

»Ja, Ferdinand Müller, meine Damen und Herrn, hier sind im dichtesten Feierabendverkehr hundertfünfzig Fahrzeuge ineinander gerast. Bisher sind 7 Tote und 26 Schwerverletzte geborgen worden. Wir haben jetzt Gelegenheit mit Herrn Schneider zu sprechen, der hier zwischen zwei Sattelschleppern in seinem ehemaligen Auto eingeklemmt auf das schwere Räumgerät des Technischen Hilfswerks wartet.

Herr Schneider, soeben hat ihnen der Notarzt mitgeteilt, dass ihnen beide Beine amputiert werden müssen. Wie fühlt man sich in einer solchen Situation?«

»Herr Jensen, wir müssen operieren.«

(aggressiv) »Ja, Moment. Herr Schneider?« (Ich bewege die rechte Hand vor den Augen) »Herr Schneider, was werden sie in Zukunft ohne Beine machen? Haben sie schon Pläne?«

(Stöhnend): »Ich ... ich grüße meine Tante Hilde in Stuttgart und die Kin ...«

»Ja, mehr war leider nicht aus ihm herauszukriegen. Walten sie ihres Amtes, Herr Doktor.«

düh düh lüh düh – Die Werbung

Ein Wort an die Herren. Ihre Partnerin vergisst manchmal die Pille? Sie haben schon Erfahrungen mit leidigen Alimente-Prozessen? Das ist jetzt vorbei! Ein Tropfen Antispersan verhindert einen Monat lang die Produktion von Samenzellen. Denken sie also daran: Abtreibung ist grausam – Schluckimpfung ist süß! Antispersaan!

»Werbepackungen haben sie auch verteilt.« (Ich nehme eine Pille und trinke einen Schluck Bier.)

»Wir schalten ersteinmal rüber ins Nachrichtenstudio.«

(Ich setze mich an den Tisch, nehme einige DIN A 4 Bögen.)

»Ostberlin: Eine neue Devisenquelle beträchtlichen Umfangs hat die Regierung der DDR aufgetan. Nach starken Anti-Lärm-Protesten der westdeutschen Bevölkerung vermietet sie nun der Bundesluftwaffe Tiefflugräume. Ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums betonte, die Sache sei zwar nicht gerade billig, aber dafür üben die Piloten gleich dort, wo sie im Ernstfall ja sowieso fliegen müssen.

Düsseldorf: Der DKP-Vorsitzende Herbert Mies zeigte sich auf einer Pressekonferenz etwas enttäuscht über die mageren 0,2 Prozent bei den Europawahlen. Er tröste sich allerdings damit, dass die Kommunisten in anderen Ländern ja viel stärker seien. In Polen zum Beispiel hätten sie um die 10 Prozent. Toi, toi, toi!«

(Ich stehe wieder auf.)

»Wir bekommen gerade eine aktuelle Meldung aus Hannover. Hallo, Manfred Kapiza, in Hannover hat es eine Familientragödie gegeben?«

»Ja, Ferdinand Müller, ich befinde mich hier in der Wohnung von Gerhard Bolsche, 3000 Hannover 1, Fliederweg 23. Wir sind hier ... Übrigens, das muss ich noch erwähnen, wir sind jetzt schon zum zweiten mal vor den Kollegen der BILD-Zeitung am Tatort gewesen. Der Arbeitslose Gerhard Bolsche, sie sehen ihn hier übrigens hängen. Der Strick ist fachmännisch geknüpft, das Genick ist sofort gebrochen, das hat uns der Polizeiarzt soeben noch einmal ausdrücklich bestätigt. Also der Arbeitslose Gerhard Bolsche bei der Hannoverschen Stadtsparkasse und der privaten ›Wir Helfen Immer GmbH & Co KG‹ mit insgesamt 47.345 Mark 57 verschuldet, hat hier am frühen Vormittag ein Blutbad angerichtet. Er hat zuerst seine Frau erwürgt ... Könnt ihr das Bild mal eben reingeben? Danke ... anschließend hat er dann seine drei Kinder erstochen. Wir können jetzt leider nicht ins Kinderzimmer rüberschalten, die Polizei behindert uns in eklatanter Weise, unserem Informationsauftrag nachzukommen. Aber bleiben sie vor ihren Geräten, wir werden auf jeden Fall noch das blutverschmierte Brotmesser ...«

»Manfred Kapiza, ich muss sie leider unterbrechen, wir bekommen gerade die Information rein, dass die chinesische Volksbefreiungsarmee ihren Angriff auf die Pekinger Universität eröffnet hat. Wir schalten also jetzt sofort rüber nach ... äh, wieso hab ich hier denn kein Bild? Wie bitte? Das darf doch wohl nicht wahr sein! Da haben die Idioten wegen einer popeligen Flugzeugentführung den Satelliten über Ostchina abgezogen. Herrgott noch mal! Bin ich denn nur von Dilettanten umgeben? Wer hat die Anweisung dafür ... Sie Armleuchter, sie. Jetzt sendet das die Konkurrenz. Hallo, Manfred Kapiza? Die Leitung ist jetzt natürlich auch tot. Das wird noch ein Nachspiel haben.«

düh düh lüh düh – Die Werbung

Phosphan, die Waschkraft des 21. Jahrhunderts. Das weißeste Weiß, das bundeste Bund. Mit einer Kombination neuer chemischer Wirkstoffe ätzt es auch noch den letzten Fleck weg. Da staunt die Hausfrau und der Gatte wundert sich. »Liebling, ist es nicht herrlich weiß? Hast du je ein weißeres Weiß gesehen? Ist es nicht das weißeste Weiß deines Lebens?« »Na ja, zugegeben. Aber ich fand die Krawatte doch schöner, als sie noch rot war.« Ausgezeichnet mit dem Umweltpreis der deutschen chemischen Industrie. (Winzigklein eingeblendet: Von Kindern fernhalten. Hautkontakt vermeiden. Bei Haarausfall und inneren Blutungen sofort den Arzt aufsuchen.)

»Was jetzt? Beirut? Ach, Kinder, das lockt doch kein Hund mehr hinterm Ofen hervor. Also gut.«

»Hallo, Ferdinand Müller. Ich befinde mich an Bord des Beobachtungsflugzeuges ACAD 23, wir kreisen zur Zeit über dem Autobahnkreuz ... äh über den östlichen Vororten Beiruts. Es scheinen sich unten Kämpfe zu entwickeln. Es ist allerdings noch nicht ganz ersichtlich, ob die Schiiten zusammen mit den Christen die Palestinänser zusammenschießen, oder die Palestinänser zusammen mit den Schiiten die Christen. Auch den Akteuren scheint dies noch nicht ganz klar zu sein.«

Zisch

»Scheiße, die beschießen uns mit Boden-Luft-Raketen. Ferdinand Müller, wir müssen leider vorerst abdrehen. Vielleicht könnt ihr einen Satelliten herschicken.«

»Soweit kommt es noch. 'N Satelliten nach Beirut. Da könn wir ja gleich ein nach Bayreuth schicken. Die letzte Inszenierung von ›Tristan und Isolde‹ war 'n größere Katastrophe.

Ach Gott, was ist das? Wir kriegen hier gerade eine Rückrufaktion für das Medikament ›Antispersan‹ rein. Bei Tierversuchen ist massenhaft Hodenkrebs aufgetreten. (Ich schreie nach hinten.) Sagt mal, hättet ihr das nicht ein paar Minuten früher sagen könn? Ja, kriegen sie mal so 'n kleinen Pille wieder raus aus dem Magen. Da können sie doch kotzen bis zum geht nicht mehr.«

(Ich setze mich wieder hin.)

(Nicht mehr in Reportersprache.) Das könnten wir jetzt natürlich noch weiter durchspielen mit Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Terrorakten, Geiseldramen etc. Aber ich nehme an, das kurze Beispiel hat ihnen gezeigt, auf was wir uns freuen dürfen.

Und wenn wir uns ständig diese Katastrophen ankucken, dann werden wir uns natürlich alle ganz doll bemühen, dass es solche nicht mehr gibt. Und wenn der Katastrophenkanal seinen hundertsten Geburtstag feiern wird, im Jahre 2089, dann wird es nur noch positive Meldungen geben.

(Ich stehe wieder auf.)

»Guten Abend meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kinder, nicht zu spät ins Bett. Morgen um acht wartet der Lehrer auf Kanal 47. Vor dem Schlafengehen nicht vergessen, die Perücken abzunehmen. Habt den auch schon brav eure Tabletten genommen gegen Hautkrebs und Pseudo Krupp, die Jodtabletten und den Vitaminersatz? Neue Filter in die Atemschutzmaske eingelegt? Den Filmbericht ›Die Monster von La Hague‹ dürft ihr euch noch ansehen, aber der Film ›Das Liebesleben der Hybriden‹ ist nicht für euch gedacht.

Ja, eine kurze Vorschau auf unser Programm, wir werden gleich rüberschalten zur Insel Harz, wo auch dieses Jahr wieder das Vertriebenentreffen der norddeutschen Landsmannschaften stattfindet. Aus Wissenschaft und Technik ein Bericht über Riesenkakerlaken die in der Gegend um den Ort Sellerfields gesichtet wurden. Aber zunächst einmal schalten wir rüber ins Nachrichtenstudio.«

(Ich setze mich an den Tisch und nehme einige DIN A 4 Bögen.)

Neukopenhagen: Auf der Landwirtschaftsausstellung im badischen Neukopenhagen stellten dänische Forscher ihre siebeneutrige Superkuh Karoline vor. Das biotechnisch erzeugte Tier liefert täglich vierhundert Liter Bier. Beobachter meinten, trotz eines leicht milchigen Beigeschmacks sei das neue Getränk doch eine echte Alternative zu dem seit dem Aussterben von Hopfen und Malz synthetisch hergestellten Algenbieres. Den vor den Messehallen demonstrierenden Gegnern der Biotechnologie hielt der Leiter der Forschergruppe entgegen, es sei ja überhaupt nicht geplant ähnliche Experimente an Menschen vorzunehmen.

Mount Everest: Auf der Vollversammlung der Verbliebenen Nationen diskutierten die Delegierten heute über biologische Rekultivierungsmaßnahmen. Besonders umstritten war die Wiederbebaumung des Planeten. Der Vertreter des APAC, des Allgemeinen Planetarischen Auto Clubs betonte, man wisse nur zu gut, wieviele Menschen in früheren Zeiten durch Bäume ums Leben gekommen seien, ganz abgesehen mal von dem Dreck, der im Herbst die Straßen bedeckte und versicherte, seine Organisation werde bestenfalls über laubfreie Gummibäume mit sich reden lassen.

Tschenstochau: Verkehrschaos, überfüllte Hotels und in Autos und Zelten campierende Menschen. Das erlebt in diesen Tagen die polnischen Stadt Tschenstochau. Dort soll die neunjährige Gabriela Gribowsky vor wenigen Tagen angeblich einen Zitronenfalter gesehen haben. Der für seine Marienerscheinungen berühmte Ort ist seither von Touristen aus aller Welt belagert. Im Vatikan denkt man bereits an eine Heiligsprechung des Mädchens.

Straßburg: Über das Problem der Säuglingssterblichkeit diskutierte heute das Europaparlament. Gesundheitsministerin Voll von der christlich konservativen Partei Europas betonte, dass die von der Opposition behauptete hohe Kindersterblichkeit doch in Wirklichkeit gar keine sei, da ja bei vielen der Neugeborenen von Menschen überhaupt nicht mehr die Rede sein könne. Eine Bereinigung der Statistik sei daher dringend erforderlich. Auf das Argument, dass auch bei den Menschen, die das fünfte Lebensjahr erreichen, die durchschnittliche Lebenserwartung in den letzten hundert Jahren von 72 auf 36 Jahre zurückgegangen sei, antwortete die Ministerin, es gäbe heute ja schließlich fünfmal soviele Menschen wie damals und dies bedeute, das die von Menschen verbrachten Lebensjahre auf das zweieinhalbfache gestiegen seien.

Paradiesatoll: Und da wir gerade bei Lebenserwartung sind, die erfreulichste Nachricht des Tages erreicht uns aus dem Südpazifik: Auf der idyllischen Südseeinsel Paradiesatoll feierte heute der älteste Mensch der Welt, der aus den ehemaligen deutschen Nordgebieten stammende frühere Bauarbeiter und Kabarettist Sven Zprottenkopp bei bester Gesundheit seinen 120. Geburtstag. Böse Zungen behaupten, er sei sogar noch älter, habe aber einer alten Schauspielerunsitte folgend einige seiner Lebensjahre stillschweigend unter den Tisch fallen lassen. Besonders an die Zeit seiner Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei könne er sich überhaupt nicht mehr erinnern. Nachforschungen der Regenbogenpresse blieben erfolglos, da das Geburtsregister von Hamburg-Barmbek und die hamburger Verfassungsschutzkartei schon vor über 70 Jahren in den Fluten des Nordeuropameeres versunken sind. Der rüstige Jubilar, der erst vor wenigen Jahren zum 5. Mal geheiratet hat (böse Zungen behaupten, er musste) antwortete auf die Frage nach seinem Erfolgsrezept, mit dem ihm eigenen Humor, das beste Mittel ein hohes Alter zu erreichen, sei, einfach nicht zu sterben.


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