Gegen selektive Geschichts- und Gegenwartswahrnehmung

Ich verfüge nicht über die Fähigkeit zur selektiven Geschichts- und Gegenwartswahrnehmung, wie sie in den Medien und bei vielen Wissenschaftler, Philosophen und Schriftstellern leider üblich ist. Über das einzelne Verbrechen, über das einzelne konkrete Leid bleibt mir das Ganze der Geschichte und der Gegenwart im Bewusstsein.

Bei der Diskussion der Bewertung des Holocaust geht es mir nicht um eine Bagatellisierung von millionenfachen Mord. Es geht auch nicht um das Bestreiten eines historischen Ereignisses, für das die Beweislast erdrückend ist. Es geht darum, dass der Massenmord an den Juden kein einzigartiges Ereignis war. Eine solche Behauptung ist historisch unhaltbar und führt auch zu falschen Schlussfolgerungen. Als ob man alles Böse an ein bestimmtes System, an eine bestimmte historische Epoche oder an eine bestimmte Menschengruppe delegieren könnte.

Ich kann nicht nachvollziehen, warum eine indianische Familie, die von weißen Siedlern ermordet wurde – ich könnte hier auch hunderte anderer Beispiele nehmen –, weniger zu bedauern ist, als die jüdische Familie, die in Auschwitz vergast wurde. Ich kann nicht nachvollziehen, warum die 35.000 Kinder, die laut UNICEF täglich verhungern, weniger zu bedauern sind, als die Opfer des Terrors religiöser Fanatiker. Selbst am 11. September 2001 sind zehnmal mehr Kinder verhungert als im World Trade Center umgekommen sind. (Aber diese Feststellung rechtfertigt keinen Terror! Er ändert am Hunger in der Welt nichts. Der Versuch mit inhumanen Methoden humanistische Ziele zu erreichen, ist immer gescheitert. Das war schon ein Grundproblem der »Leninisten«.)

Wir haben es mit einem Gattungsproblem zu tun. In der Natur des Menschen liegt die Fähigkeit ein Massenmörder zu werden. Umwelteinflüsse können solche Fähigkeiten fördern oder hemmen, nicht mehr und nicht weniger. (Zu dieser Problematik sehen Sie bitte auch meinen Aufsatz Über die negative Seite des Menschen.)

Bei Adorno kommt noch hinzu, dass er Auschwitz in Zusammenhang mit dem »Spätkapitalismus« bringt. Da frage ich: Was hatten der Völkermord an den Indianern oder an den Armeniern, was hatte der GULAG, was hatten die Massenmorde in Kamputschea und Ruanda mit Spätkapitalismus zu tun?


Vorwurf des Nationalismus

Ich bin kein Nationalist und war es nie. In meiner Kindheit war ich Christ, in meiner Jugendzeit Kommunist und seit Anfang meiner 30er Jahre bin ich Sozialdemokrat. (Allerdings mit großen Differenzen zur Sozialpolitik der verschröderten SPD!)

Aber den »umgekehrten Nationalismus«, der in Deutschland zur Staatsdoktrin erhoben wurde, den große Teile der Intellektuellen und der politischen Klasse bis ins konservative Lager hinein verinnerlicht haben, den teile ich ebensowenig. Deutsche schlecht, Ausländer gut? So simpel ist es nicht. Z. B. gibt es unter den in Deutschland lebenden Türken mehr Nationalisten, als unter den in Deutschland lebenden Deutschen. Das ist kein genereller Angriff auf die Türken. Das ist einfach eine Tatsache, die jeder bemerken kann, der sich mit vielen Deutschen und vielen Türken unterhält. (Wenn man unter türkischen Jugendlichen eine Umfrage macht und nach den Massenmord an den Armeniern fragt, dann trifft man auf eine erheblich größere Unwissenheit, als wenn man unter deutschen Jugendlichen nach dem Massenmord an den Juden fragt.)

Deutsche Wissenschaftler, Techniker, Philosophen, Komponisten etc. – zu einem großen Teil Deutsche jüdischer Abstammung! – haben hervorragendes für den Menschheitsfortschritt geleistet. Das wird durch zwölf Jahre Hitlerdiktatur und die Massenmorde nicht ungeschehen gemacht. (Sehen Sie hierzu auch Deutsche Philosophie.) Den Nachgeborenen muss erlaubt sein auf die positiven Seiten der Deutschen Geschichte hinzuweisen, ohne das sie gleich mit Nazis auf eine Stufe gestellt werden. Die Nazis waren die größte Katastrophe der deutschen Geschichte. Aber es kann nicht angehen, dass die Deutschen auch 60 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges als einziges Volk der Welt keine nationalen Interessen haben dürfen und sich ständig Asche auf's Haupt streuen sollen. Das erwarten die Ausländer gar nicht von uns. Das fordern lediglich große Teile der intellektuellen und politischen »Innländer«


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