Marxismus-Leninismus (ML)

Der ML war die Philosophie und Gesellschaftswissenschaft, die Weltanschauung die in den ehemaligen »sozialistischen« [1] Ländern, und damit auch in einem Teil des heute wieder vereinigten Deutschlands über Jahrzehnte hinweg die einzig erlaubte Philosophie und Gesellschaftswissenschaft, die Staatsideologie oder Staatsdoktrin war. Auch für die meisten kommunistischen Parteien in anderen Teilen der Welt war der ML die ideologische Grundlage.

Um den ML richtig zu verstehen, seine wichtigsten Aussagen zu begreifen, muss man sich mit den Theorien von Marx, Engels und Lenin vertraut machen. Der ML weicht zwar in vielen Punkten sowohl vom ursprünglichen Marxismus, wie vom ursprünglichen Leninismus ab, ist aber ohne diese Theorien nicht denkbar und nicht verstehbar. Es wird hier nicht alles wiederholt, was in den philolex-Beiträgen zu Marx, Engels und Lenin vorgetragen wurde. Hier nur kurz und knapp das Grundsätzlichste:

So wie es Naturgesetze gebe, so gebe es auch geschichtliche, gesellschaftliche Gesetze, die genauso unabänderbare Entwicklungen herbeiführen würden. Im Unterschied zu den Naturgesetzen bedürften die gesellschaftlichen Gesetze allerdings zu ihrer Vollstreckung das Handeln der Menschen. Die Menschen seien nun durch ihre Lebenslage in den mit Notwendigkeit entstandenen gesellschaftlichen Verhältnissen gezwungen, so zu handeln, wie es zur Vollstreckung der geschichtlichen, gesellschaftlichen Gesetze nötig sei.

Die Menschheit durchlaufe zwangsläufig eine Entwicklung von der klassenlosen Urgesellschaft zu den Klassengesellschaften Sklaverei, Feudalismus und Kapitalismus. Der Kapitalismus produziere auf Grund seines wirtschaftlichen Funktionierens zwangsläufig seinen Untergang. Er bringe mit Zwangsläufigkeit die Menschen, die Klasse hervor, die ihn stürzen wird: Das  Proletariat. Der Sozialismus sei das notwendige Resultat der Geschichte. (Also nicht etwa eine (nur) ethische, politische Forderung.) Er komme so unabänderlich wie die nächste Mondfinsternis. So ganz grob Marx und Engels.

Die Deutschen Marx (*1818) und Engels (*1820) haben den Russen Lenin (*1870) nie gekannt. Er war zwei Generation nach ihnen und hatte keinerlei Kontakt zu den beiden Älteren. Lenin übernahm die Auffassungen von Marx und Engels weitgehend, veränderte den ursprünglichen Marxismus aber in zwei Punkten: 1. Das Proletariat könne aus sich heraus nur gewerkschaftliches, kein sozialistisches, kommunistisches Bewusstsein (keine entsprechenden Auffassungen und Forderungen) entwickeln. Es müsse ideologisch von der kommunistischen Partei geschult und geleitet werden. 2. Nach der proletarischen Revolution müsse ein sozialistischer Staatsapparat aufgebaut werden.

Zentrale Auffassungen des ML:

Nach Meinung der Anhänger des ML waren dessen Grundaussagen objektive, unumstößliche Wahrheiten. Wer diese Auffassungen ablehnte bzw. nicht teilte, irrte oder täuschte bewusst, war entweder dumm oder  böse. Jede Ablehnung der kommunistischen Bestrebungen beruhte auf einer dieser beiden Grundtatbestände. Und aus dem theoretischen Dogmatismus ging der Totalitarismus hervor. Außerhalb der pyramidenförmigen Funktionärskaste gab es kein Machtzentrum, wurde keine Opposition geduldet.

Menschen, die den ML vertraten, regierten einst im 20. Jahrhundert fast ein Drittel aller Länder der Welt bzw. ein Drittel aller Menschen auf der Erde. Heute gibt es lediglich nur noch wenige Reste davon (Kuba, Nordkorea, Vietnam). Auch dort ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann diese Ideologie aufgegeben wird. Die Grundaussagen des ML haben sich im Verlaufe der Geschichte als falsch bzw. als unbrauchbar bei der Verbesserung der Welt herausgestellt. Der ML ist ein »Auslaufmodell« und eigentlich nur noch von geschichtlichem bzw. ideologiegeschichtlichem Interesse. Deshalb habe ich bei seiner Darstellung die Vergangenheitsform gewählt.

Ein besonders wichtiger Aspekt des ML gegenüber den Theorien von Marx, Engels und Lenin bestand darin, dass bestimmte Aussagen dieser Personen dogmatisiert, andere Aussagen dieser Personen dagegen totgeschwiegen oder abgeleugnet wurden, wenn sie allzusehr den Realitäten entgegenstanden. Ein paar weitere Beispiele:

Der gesetzmäßige Untergang des Kapitalismus wurde dogmatisiert, wenn auch das Eintreten dieses Ereignisses mehr und mehr auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wurde.

Die  Entfremdungstheorie wurde totgeschwiegen, da zu offensichtlich war, dass die Menschen in den sozialistischen Ländern (jedenfalls nach den Theorien von Marx) weiterhin entfremdete Wesen waren.

Die marxsche Behauptung von der Entstehung einer Totalität von Fähigkeiten in den einzelnen Individuen, von  der Entwicklung des universellen Arbeitsvermögens und damit von der absoluten Disponibilität des Einzelnen im Arbeitsprozess (jeder Arbeiter ist an jeder Stelle des Produktionsprozesses einsetzbar) wurde abgeleugnet.

Ein weiterer wichtiger Aspekt des ML war der zum Teil gravierende Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Der Theorie nach hatte das Volk, speziell die Arbeiterklasse, die Macht. Tatsächlich lag die Macht bei den Funktionären der Partei-, Staats- und Wirtschaftsbürokratie, während von dem Volk, von den Arbeitern systemkonforme Aktivität erwartet wurde. Eine effektive Möglichkeit der Bevölkerung oder der Arbeiter die Regierung oder die Führung der Kommunistischen Partei zu kontrollieren oder abzuwählen bestand nicht.

Der ML wurde als »wissenschaftliche Weltanschauung der Arbeiterklasse« bezeichnet. Ob die Mehrheit der Arbeiter oder auch nur eine einigermaßen relevante Minderheit unter den Arbeitern diese Theorie überhaupt vertrat oder auch nur kannte, spielte dabei überhaupt keine Rolle.

Sehen Sie zu diesem Thema bitte auch meine Aufsatzsammlung Marxistische Theorie und realsozialistische Praxis.


Zur philolex-Startseite


Anmerkungen

Anm. 1: »Sozialistisch« habe ich deshalb in Anführungszeichen gesetzt, weil man unter diesem Begriff ursprünglich mal etwas anderes verstanden hat, als später unter diesem Begriff in Osteuropa und anderswo praktiziert wurde. Es ist mir klar, dass man mit der gleichen Argumentation viele andere Begriffe in Anführungszeichen setzen können, z. B. »christlich«. Zurück zum Text

Anm. 2: Die Freien Institutionen (Freie Wahlen, verschiedene Arten der Gewaltenteilung, Pluralität verschiedener Parteien und Interessensvertretungen, freie Presse, Demonstrationsfreiheit, Streikrecht, Recht auf Auswanderung u. v. ä. m.) wurden z. T. als oberflächlicher Schwindel abgelehnt z. B. die Gewaltenteilung und z. T. als im Sozialismus unnötig angesehen. (Wenn die Arbeiter die Macht haben und ihnen die Produktionsmittel gehören, warum sollten sie dann gegen sich selbst streiken?) Z. T. bestanden (bestehen) die Freien Institutionen formal, faktisch aber nicht. (Pressefreiheit, Reisefreiheit, Demonstrationsrecht u. w.) Zurück zum Text

Anm. 3: Der Einzelne durfte Eingaben machen, sich mit Vorschlägen und Anregungen an höhere Organe wenden. (Das kann man in fast jeder anderen Despotie auch.) Aber was aus seinen Eingaben wurde, darauf hatte er keinen Einfluss. Blieben diese Eingaben im Rahmen des Systems, wurde sie vielleicht wohlwollend erwogen. Waren sie nicht im Rahmen des Systems, waren Repressionen zu befürchten. Vorladungen bei Polizei oder Stasi, eventuell Gefängnis, Kündigung der Arbeitsstelle etc. pp. Zurück zum Text

Anm. 4: Diese Auffassung Lenins galt bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. Erst nachdem Millionen von Kommunisten Opfer ihrer eigenen Methoden, ihrer »Moral« geworden waren, sprachen die Kommunisten von. »allgemein menschlichen Sittennormen«, in denen sich die Sehnsüchte der Volksmassen ausdrücken würden. Zurück zum Text


Zur philolex-Startseite


Copyright © by Peter Möller, Berlin.