Vernunft


Kurzbeschreibung der Vernunft

Vernunft bedeutet umgangssprachlich die Fähigkeit zu denken (näheres dort), synonym mit Verstand. Gelegentlich wird dafür auch der Begriff Geist verwendet. (Der allerdings vieldeutig ist.) Es wird dann von den geistigen Fähigkeiten der Menschen gesprochen.

In der Philosophie ist Vernunft sowohl etwas subjektives, ein Teil des Erkenntnisapparates des Menschen (theoretische oder epistemologische Vernunft), als auch etwas objektives, ein die Welt durchwaltendes und ordnendes Prinzip. (Metaphysische oder kosmologische Vernunft, Weltvernunft, logos, nous, Weltgeist.)

Als Teil des menschlichen Erkenntnisapparates wird Vernunft (siehe auch intellectus) seit Kant nach Wahrnehmung (siehe auch Empirie, Perzeption) und Verstand (siehe auch Apperzeption, ratio, Rationalismus) als die oberste menschliche Erkenntnisinstanz angesehen. Aber auch in der Philosophie werden Vernunft und Verstand häufig synonym verwendet. Es gibt auch Philosophen, die in der Vernunft etwas Negatives sehen und sie zum Teil schroff ablehnen.

Als praktische Vernunft bezeichnet man die Fähigkeit zu zweckmäßigem Handeln. Aber auch in der Tradition Kants die Fähigkeit zu einem Handeln, dass mit den Sittengesetzen übereinstimmt. (Ethik)


Die Bewertung der Vernunft durch verschiedene Philosophen

Fast jeder Philosoph hatte eine Auffassung davon, was Vernunft ist. Hier hunderte Philosophen aufzuführen, würde aber den Rahmen des Artikels sprengen. Ich beschränke mich auf die Philosophen, die für die Geschichte der Philosophie und die aktuelle Diskussion über den Vernunftbegriff besonders wichtig sind.

Unter den Vorsokratikern waren es  Heraklit und  Anaxagoras, die die Weltvernunft in die Philosophie einführten.

Platon unterschied zwischen noësis und dianoia. Erstes entspricht dem, was heute in der Philosophie Vernunft genannt wird. Damit würde wir die  Ideen, das Wesen des Seins erfassen. (Siehe auch Intuition.) Das Zweite bedeutet das, was man heute in der Philosophie Verstand nennt, das  begriffliche Denken, das schrittweise Entwickeln von Erkenntnissen.

Aristoteles teilte die menschliche Vernunft in einen aktiven und einen passiven Teil. Der passive Teil sei an den individuellen Körper gebunden, auf Wahrnehmung angewiesen und sterblich. Der aktive Teil sei reine Vernünftigkeit und unsterblich.

Die  Stoiker vertraten die Auffassung, dass eine Weltvernunft das All durchwirke. Sie zeige sich in den Gesetze, nach denen alles entstehe und wirke. Diese Weltvernunft nannten sie auch »Vater«.

Die Christen, die u. a. von den  Stoiker stark beeinflusst waren, sahen in Gott (den auch sie »Vater« nannten) die universelle, absolute und unendliche Vernunft, an der der Mensch nur begrenzt teilhaben könne.

Skeptiker und Empiristen kritisierten die Vorstellung von der Weltvernunft. (Obwohl dies nicht auf jeden Philosophen zutrifft, der den Empirikern zugerechnet wird. Auf Aristoteles trifft es nicht zu.)

Für  Spinoza ist der Mensch ein vernünftiges Wesen. Die Vernunft, nicht die Emperie, sei zu sicherer Erkenntnis fähig. Der Mensch sei aber auch ein triebhaftes, leidenschaftliches Wesen. Wir bräuchten die Leidenschaften als Motor unseres Lebens. Die Vernunft müsse aber die verschiedenen Leidenschaften im Interesse der Gesamtperson koordinieren. Darüberhinaus könne die Vernunft aber noch mehr: Sie könne selbst zur Leidenschaft, sogar zur stärksten Leidenschaft werden!

Eine besonders hohe Bewertung erhielt die Vernunft in der  Aufklärung. Vernunft sei das Wesen des Menschen. Die Welt sei in ihrer Gesamtheit vernünftig angelegt und könne von der menschlichen Vernunft erkannt werden. Die Vernunft sei die einzige und letzte Instanz, die über Wahrheit oder Falschheit einer Erkenntnis entscheidet. (Sehen Sie hierzu auch Rationalismus.)

Epochal für die Philosophiegeschichte ist Kants  Kritik der reinen Vernunft. Kant verwirft die Existenz einer kosmologisch-metaphysische Vernunft und unterzieht die menschliche Vernunft, genauer aber das gesamte menschliche Erkenntnisvermögen einer kritischen Prüfung und kommt zu dem Schluss, dass man aus der Vernunft kein sicheres Wissen über die Welt erreichen könne. Vernunft ist für Kant nach Wahrnehmung und Verstand die oberste menschliche Erkenntnisfähigkeit. Sie kontrolliere den Verstandesgebrauch und sei dazu in der Lage, nach höchsten allgemeinsten Grundsätzen für das theoretische Erkennen wie für das praktische Handeln zu suchen.

Für Hegel ist ein Wesensmerkmal der Weltvernunft (bei ihm  »Weltgeist«), dass sie sich im Verlaufe der Geschichte entfalte. Der Mensch habe mit seiner Vernunft Teil an der Weltvernunft, es sei der Weltgeist, der sich im Menschen entfalte, es sei Gott, der sich im Menschen seiner Existenz bewusst werde. In der absoluten Vernunft würden alle Gegensätze, die der Verstand konstatiere, dialektisch aufgehoben. Da die Wirklichkeit Ausdruck des jeweiligen Entwicklungsstandes der Vernunft sei, sei alles Wirkliche vernünftig und alles Vernünftige wirklich. Hegel ist der letzte große Vertreter des metaphysischen oder kosmologischen Vernunftbegriffs. (Hegels »absolute Vernunft« ist auf starke Kritik gestoßen. U. a. bei  Schopenhauer,  Kierkegaard,  Feuerbach,  Nietzsche,  Adorno.)

Die Vertreter der Lebensphilosophie sehen in der Vernunft bestenfalls etwas nachgeordnetes. (Nach Instinkt, Gefühl, Intuition) Einige lehnen die Vernunft schroff ab. Z. B. Ludwig Klages.

In der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelten Horkheimer und Adorno eine Kritik an der Vernunft, besonders an der  instrumentellen Vernunft. Sie und weitere Vertreter der Frankfurter Schule vertraten die Auffassung, dass die Vernunft, die einst eine  aufklärerische Rolle gespielt hätte, in der modernen Welt zu einer instrumentellen Vernunft verkommen sei. Unter zunehmendem Verlust der Individualität würden die Menschen zu Vollzugsorganen und Objekten einer wissenschaftlich-technischen Naturbeherrschung und einer zunehmend bürokratisierten Welt. Es sei eine Krankheit der Vernunft, dass sie die Natur beherrschen wolle.

 Habermas, der ursprünglich der Frankfurter Schule angehörte, entwickelte den Begriff der »kommunikativen Vernunft«. In einem offenen Diskurs argumentations- und kommunikationsfähiger Subjekte, die sich gegenseitig anerkennen, würde intersubjektive handlungsanleitende Verständigung möglich.

In der modernen Philosophie wird nicht mehr sosehr von der Vernunft gesprochen, sondern mehr vom Rationalismus. So entwickelte Karl Popper den Begriff des Kritischen Rationalismus. Dies sei die Form der  Aufklärung in unserer heutigen Zeit. Wir sollten unsere Vernunft nützen, aber von ihr einen vorsichtigen Gebrauch machen. Vor dem Vernunftgebrauch stehe ein irrationaler Glaube an die Vernunft. Unsere mit Hilfe der Vernunft errungenen Erkenntnisse blieben in letzter Instanz  Hypothesen.


Meine Auffassung über die Notwendigkeit der Vernunft

Für mich ist die Vernunft im weitesten Sinne als Erkenntnisvermögen des Menschen unverzichtbar. Durch sie unterscheidet sich der Mensch vom Tier. Sie ist etwas qualitativ Neues, das auf unserem Planeten im Verlaufe der Evolution erst mit dem Menschen entstanden ist. Neben der Vernunft gibt es noch andere schöne Dinge z. B. Gefühle und Kunst, besonders  Musik. Alles, was das Leben lebenswert macht, hat nach Popper etwas mit Gefühl (man kann auch sagen Leidenschaft) zu tun, aber die Vernunft sollte in keinem Lebensbereich völlig fehlen. Und wie bei Spinoza ist auch bei mir die Vernunft zur höchsten Leidenschaft geworden.

Ich bin ein dezidierter Befürworter und Verehrer der instrumentellen Vernunft, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Die Vorteile, die dieser mit sich bringt, sind für mich unverkennbar. (Massenwohlstand, Krankheitsbekämpfung u. v. ä. m.) Die Ablehnung der instrumentellen Vernunft durch vielen Philosophen des 20. Jahrhunderts teile ich in keiner Weise. (Z. B. Frankfurter Schule, Phänomenologie, Existenzphilosophie.) Die kontemplative Vernunft gefällt mir aber genauso. Für mich ist das ein »sowohl, als auch«, kein »entweder, oder«.

Ob es eine Art Weltvernunft gibt, wie viele Philosophen annehmen, ist für mich offen. Mir ist die Existenz einer solchen Weltvernunft aber plausibler als ihre Nichtexistenz. Auf jeden Fall gibt es »intelligenzanaloges Verhalten« in der Natur, wie Konrad Lorenz feststellte, Intelligenz, bevor es Gehirne, gab, die es beherbergten, wie Hoimar von Ditfurth es nannte.

Die Vernunft kann nicht alles erklären, sie kann nicht alle philosophischen Fragen lösen. Über die Vernunft hinaus, aber nicht hinter die Vernunft zurück! Und jedes »über die Vernunft hinaus« muss die Vernunft berücksichtigen, muss sie in irgendeiner Weise beinhalten. Was Abwesenheit von Vernunft bedeutet, darüber habe ich mich u. a. in einer Anmerkung zum philolex-Beitrag Letztbegründung näher ausgelassen. ( Genaueres dort.)

Das Verhältnis der Vernunft zur Ethik ist ambivalent. Auf der einen Seite kann Vernunft nicht unmittelbar Ethik begründen, sie kann nicht entscheiden, ob ein bestimmter ethische Grundsatz bzw. eine bestimmte ethische Forderung richtig oder falsch ist. Ethische Grundsätze gehen immer aus dem Gefühl hervor. Auf der anderen Seite lässt sich nachweisen, je höher die Vernunft, die Bildung, das Einsichtsvermögen etc. in einem einzelnen Menschen oder in einer Menschengruppe entwickelt ist, um so höher ist tendenziell auch die Ethik dieses Menschen oder dieser Menschengruppe. (Lediglich tendenziell, weil rein zahlenmäßig viele Gegenbeispiele genannt werden können. Prozentual fallen diese aber nicht ins Gewicht.) Zwischen Vernunft und Ethik scheint es also einen Zusammenhang zu geben, wenn auch keinen unmittelbaren.


Zitate zur Vernunft

Denis Diderot: »Durch Vernunft, nicht durch Gewalt soll man Menschen zur Wahrheit führen.« »Wenn man mir sagt, es gebe Dinge, die über unsere Vernunft hinausgehen, so kann mich das nicht veranlassen, Unsinn zu glauben. Zweifellos gibt es Dinge, die über unsere Vernunft gehen; aber ich verwerfe kühn alles, was ihr widerstreitet, und alles, was gegen sie verstößt.« [ Meine Auffassung!]

Galileo Galilei: »Ich fühle mich nicht zu dem Glauben verpflichtet, dass derselbe Gott, der uns mit Sinnen, Vernunft und Verstand ausgestattet hat, von uns verlangt, dieselben nicht zu benutzen.«

Goethe: »Es waren verständige, geistreiche, lebhafte Menschen, die wohl einsahen, dass die Summe unsrer Existenz, durch Vernunft dividiert, niemals rein aufgehe, sondern dass immer ein wunderlicher Bruch übrigbleibe.« »Die Vernunft ist grausam, das Herz ist besser.« [Das Herz bzw. das Gefühl ist grasusam oder gütig, die Vernunft steht jenseits solcher Gefühle.] »Werden die Menschen denn nie lernen, die rechte Mittelstraße einzuhalten und mehr der Stimme der Vernunft als dem Taumel der Leidenschaft zu folgen?« [Das ist schon wesendlich besser, als das vorherige Zitat. Goethe widerspricht sich oft.] »Von der Vernunfsthöhe herab sieht das Leben einer bösen Krankheit und die Welt einem Tollhaus gleich...«

Johann Georg Hamann: »Die Vernunft ist auch nicht dazu gegeben, dadurch weise zu werden, sondern eure Torheit und Unwissenheit zu erkennen.« [Durch das Erkennen unserer Torheit und Unwissenheit werden wir weise. Aber nicht voller objektiver Wahrheiten.]

Hegel: »Das, was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das, was ist, ist die Vernunft.« »Alles was vernünftig ist, ist wirklich, und alles was wirklich ist, ist vernünftig.« »Der Kampf der Vernunft besteht darin, dasjenige, was der Verstand fixiert hat, zu überwinden.«

Heraklit: »Vielwisserei lehrt nicht Vernunft zu haben.« Ähnliches Zitat von Schopenhauer

Kant: »Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.«

Gottfried Wilhelm Leibniz: »Das Vermögen, welches die Verbindung der Wahrheiten untereinander einsieht, heißt im eigentlichen Sinne die Vernunft.«

Otto von Leixner: »Begeisterung ist ein Feuer, das die Innenwelt in Fluss erhält. Aber Vernunft muss ihr die Gussform richten, in die sich das geschmolzene Metall ergießt, sonst verfließt alles halt- und gestaltlos.«

Lichtenberg: »Anstatt dass sich die Welt in uns spiegelt, sollten wir vielmehr sagen, unsere Vernunft spiegele sich in der Welt.«

Montesquieu: »Nie kommt ein Mensch aus Vernunft zur Vernunft.« [Ähnlich wie  Popper.]

Nietzsche: »Die Verkennung von Leidenschaft und Vernunft, wie als ob letztere ein Wesen für sich sei und nicht vielmehr ein Verhältniszustand verschiedener Leidenschaften und Begehrungen; und als ob nicht jede Leidenschaft ihr Quantum Vernunft in sich hätte...«

Blaise Pascal: »Es gibt zwei gefährliche Abwege: die Vernunft schlechthin abzulegen und außer der Vernunft nichts anzuerkennen.«

Linus Pauling: »Wenn der Mensch so viel Vernunft hätte, wie Verstand, wäre vieles einfacher.«

Francesco Petrarca: »Wer seine Leidenschaften durch den Zaum der Vernunft zu regieren sucht und erkennt, dass er nur insoweit über das Tier erhaben steht, als er die Vernunft gebaucht: – der heißt ein wahrer Mensch!«

Bertrand Russell: »Vernunft hat einen ganz klaren Sinn. Vernunft ist die Wahl der richtigen Mittel zu einem bestimmten Zweck. Die Wahl des Zwecks hat damit nichts zu tun.«

Rousseau: »Die Vernunft formt den Menschen, das Gefühl leitet ihn.«

George Santayana: »Die Gewohnheit ist stärker als die Vernunft.«

Schiller: »Ein edles Herz bekennt sich gern von der Verrnunft besiegt.«

Seneca: »Willst du dir alles unterwerfen, so unterwirf du dich der Vernunft!«

Sophokles: »Die Götter pflanzten die Vernunft dem Menschen ein als höchstes aller Güter.«

Charles Tschopp: »Wer sich ständig von Vernunft leiten lässt, ist nicht vernünftig.«

Gerhard Uhlenbruck: »Die Vernunft ist die Opposition innerhalb des Verstandes.«

Voltaire: »In einer irrsinnigen Welt vernünftig sein zu wollen, ist schon wieder ein Irrsinn für sich.«

Karl Heinrich Waggerl: »Das Vorurteil ist die hochnäsige Empfangsdame im Vorzimmer der Vernunft.«

Oscar Wilde: »Der Mensch ist ein mit Vernunft begabtes Tier, das immer die Geduld verliert, wenn es der Vernunft gemäß handeln soll.«


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